Der
anstehende Besuch von Papst Franziskus auf der Insel Lesbos richtet
den Blick auf die Situation der dortigen Flüchtlinge. Im Interview
fordert der Vorsitzende der Deutschen Kommission Justitia et Pax
(Gerechtigkeit und Frieden), der Trierer Bischof Stephan Ackermann,
dass in Griechenland menschenrechtskonforme Asylverfahren gewährleistet
werden. In mehreren Punkten kritisiert er die neue Praxis des Austauschs
von Flüchtlingen zwischen Türkei und EU.
Frage: Herr Bischof, am Samstag besuchen Papst Franziskus und Patriarch Bartholomaios I. ein Flüchtlingszentrum auf der griechischen Insel Lesbos. Welche Bedeutung hat diese Reise?
Ackermann: Sie ist ein konkretes Zeichen der Nähe zu den Migranten und Flüchtlingen
und lenkt den Blick Europas zurück auf die drängende
Migrationsfrage. Die Flüchtlingsbewegungen waren monatelang das Topthema
in der Öffentlichkeit. Nachdem Mazedonien seine Grenze abgeriegelt hat
und das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft ist, ist es in
der Öffentlichkeit fast gespenstisch ruhig geworden um das Thema.
Frage: Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im
März einigte man sich auf eine Kontingentlösung. In diesem Jahr sollen
72.000 syrische Flüchtlinge europaweit verteilt werden. Halten Sie das
für einen erfolgversprechenden Weg?
Ackermann: Ich sehe die Bemühungen innerhalb der EU
um eine Kontingentlösung positiv. Gemeinsame Kontingentlösungen würden
einen echten Fortschritt für die europäische Flüchtlingspolitik
bedeuten. Doch ein solches Kontingent muss natürlich eine signifikante
Zahl sein, damit die Menschen, die sich zur Flucht gezwungen sehen, auch
den Eindruck haben, dass es eine echte Chance gibt, nach Europa zu
kommen. Wenn Europa 72.000 Flüchtlinge aufnehmen will, dann bedeutet das
übrigens kein neues Kontingent – das ist lediglich eine noch nicht
ausgeschöpfte „Restzahl“ von früheren Vereinbarungen.
Am Samstag wird Papst Franziskus auf der griechischen Insel
Lesbos einmal mehr mit Flüchtlingen zusammentreffen. Schon seine erste
Reise führte ihn auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa.
KNA
Frage: Wie hoch müsste denn Ihrer Meinung nach eine Zahl ausfallen, damit man sie als signifikant bezeichnen kann?
Ackermann: Eine Zahl von 200.000 Flüchtlingen europaweit hielte ich für eine signifikante Größe.
Frage: Menschenrechtsorganisationen kritisieren den neuen
Modus, dass Europa für jeden Bootsflüchtling, der in die Türkei
zurückgeschoben wird, im Gegenzug einen syrischen Flüchtling von dort
aufnehmen will.
Ackermann: Diese Kopplung ist definitiv zu
kritisieren. Pauschale Abschiebungen sind im EU-Raum rechtlich nicht
erlaubt. Es steht aber zu befürchten, dass sie nun in Griechenland
praktiziert werden. Ich will nicht schwarzmalen, aber es ist fraglich,
ob es Griechenland gelingt, ordentliche, das heißt rechtlich
unanfechtbare Asylverfahren zu etablieren. Bisher war es faktisch so,
dass Flüchtlinge, die aus Griechenland zu uns kamen, nicht wieder
zurückgeführt wurden, wie es nach der Dublin II-Verordnung eigentlich
hätte sein müssen. Deutsche Gerichte hatten nämlich Zweifel an den
asylrechtlichen und menschenrechtlichen Standards. Wenn das nun
funktionieren soll, ist die zugesagte Verstärkung durch die europäischen
Partner dringend notwendig.
Frage: Nach dem EU-Türkei-Abkommen sollen auf dem Kontinent nur noch syrische Flüchtlinge aufgenommen werden.
Ackermann: Auch das ist bedenklich, weil es andere Flüchtlinge
gibt, die aufgrund der Situation in ihrem Heimatland ebenfalls hohe
Chancen auf Anerkennung bei uns haben. Menschen aus Eritrea zum
Beispiel. Oder aus Afghanistan: Hier sind zum Beispiel Personen
betroffen, die mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben, die deswegen
verfolgt werden und nicht mehr in Afghanistan bleiben können. Wie
nehmen wir hier unsere Verantwortung wahr?
Frage: Ist es verantwortlich, die Türkei, in der sich bereits
Millionen Syrer aufhalten, noch stärker zu belasten, indem die EU das
Land als Auffangbecken nutzt?
Ackermann: Zwar haben die EU-Staaten Hilfen über
drei Milliarden Euro zugesagt. Aber nach verlässlichen Informationen ist
die Situation in den türkischen Lagern derzeit so schlimm, dass viele
Syrer sich nicht in den Lagern aufhalten. Damit kommen ihnen aber die
zugesagten Mittel gar nicht zugute! Problematisch ist ebenfalls, dass
die Türkei sich nicht generell auf die Genfer Flüchtlingskonvention
verpflichtet hat: Nur Europäer werden im Sinne der Konvention behandelt.
Die Einhaltung von Zusicherungen durch die Türkei ist, wenn man jüngsten Berichten von Amnesty International Glauben schenken darf, äußerst fraglich.
Frage: Die Abriegelung der Balkanroute hat zu einem Rückgang
der Flüchtlingszahlen geführt. War das eine zwar umstrittene, aber doch
auch effektive Maßnahme?
Ackermann: Es scheint fürs erste so. Wenn aber jetzt
die mazedonische Grenze geschlossen ist, wird es wahrscheinlich so
sein, dass die Schlepperbanden gefährlichere Routen auskundschaften.
Letztlich muss es immer darum gehen, Schutzsuchende davon abzubringen,
solche Fluchtwege zu wählen, die das Schlepperunwesen verstärken und
lebensgefährlich sind.
Frage: Also die Flucht zu entkriminalisieren, so gut es geht?
Ackermann: Genau. Dazu können die „humanitären Korridore“, die die geistliche Gemeinschaft Sant'Egidio
zusammen mit den italienischen Botschaften praktiziert, helfen. Auch
die Bundesrepublik könnte solche Visa aus „humanitären Gründen“
ausstellen, was sie bisweilen auch schon getan hat. Wesentlich für eine
zukunftsfähige Lösung sind jedoch legale Zugangswege nach Europa. Dann
brauchen Menschen – vor allem aus Afrika – nicht unter dem Vorwand der
Asylsuche nach Europa zu kommen, und wir finden Regelungen, die
praktikabel und menschenwürdig zugleich sind.
Von Michael Merten (KNA)
Quelle